Neuer Jüdischer Friedhof

Lenka Reinerová

In Prag gibt es einen Ort, an dem die Zeit stehengeblieben ist. Das ist nicht weiter verwunderlich, gilt für die meisten Stätten dieser Art. Ich meine nämlich den sogenannten Neuen Jüdischen Friedhof in Strašnice, am oberen Ende des Stadtviertels mit dem einladenden Namen Weinberge (Vinohrady). …

Einmal begleitete ich an einem Sommertag ein paar Journalisten, die bei mir zu Besuch waren, an diese Ruhestätte, von deren legendärer Atmosphäre sie schon allerhand gehört hatten. Sie wollten sich hier deshalb gründlich und ohne Zeitbedrängnis umsehen. Um sie in keinerlei Weise zu beeinflussen, lieβ ich sie ihren Rundgang allein antreten und blieb gleich beim Eingang auf einer Bank vor dem kleinen Häuschen sitzen, in dem jetzt in einem Computer die Namensverzeichnisse der hier Bestatteten gespeichert sind. Ein hagerer älterer Mann, der in dem bescheidenen Büro offenbar diese Arbeit verrichtet, guckte aus der Tür, sah mich auf seiner Bank sitzen, trat heraus und setzte sich stillschweigend neben mich.  …

Durch das groβe Gittertor war ein Mann eingetreten, ein untersetzter Mann in Hemdsärmeln, und steuerte auf die Hauptallee zu.
„Sie müssen Ihren Kopf bedecken“, rief ihm der Alte neben mir zu und erhob sich, „ sonst können Sie nicht weitergehen.“
„Was ist das für ein Unsinn?“ entgegnete der Mann, blieb stehen und schaute sich verblüfft und auch sichtlich erbost um. „Warum soll ich meinen Kopf bedecken? Was kümmert Sie mein Haupt? Lassen Sie mich in Frieden.“ Und er wollte seinen Weg fortsetzen.
Überraschend schnell trat der Alte vor ihn. „Nichts zu machen“, erklärte er. „So lautet unsere Vorschrift, und die muβ eingehalten werden. Kommen Sie, ich leihe Ihnen eine Jarmulka, das ist so ein Papierkäppchen.“
„Kommt überhaupt nicht in Frage“, schnaufte der Mann, jetzt schon gereizt. „Ich brauche Ihre Maskerade nicht, bin auch nur hergekommen, um mich ein biβchen an die Sonne zu setzen. In Ruhe, dachte ich! Auf Ihre irrsinnigen Vorschriften huste ich, die gehen mich nichts an.“
„Sie wollten sich hier sonnen?“ staunte ich, versuchte dem Alten beizustehen, der sich erregt und leicht zitternd auf die Bank neben mich fallen lieβ. „Auf einem Friedhof?“
„Na und? Die Sonne ist ja zum Glück auch nicht bedeckt.“ Der Mann lieβ sich auf der Umrandung eines der Gedenksteine für die Gefallenen nieder. „Ich muβ, wenn Sie das beruhigt, gar nicht weitergehen und bleibe einfach hier. Aber so wie ich bin, mit Ihren Dummheiten kommen Sie bei mir nicht an. Den Kopf bedecken, bei dieser Hitze!“
Er wischte mit dem Taschentuch über sein rundes Gesicht und hielt es dann der Sonne entgegen. Der Alte neben mir beruhigte sich ein wenig.
„Von mir aus. Aber auf den Friedhof dürfen Sie so auf keinen Fall.“
Der Mann blieb mit geschlossenen Augen sitzen, ohne zu reagieren. Es ergab sich eine kurze Stille.
„Sie haben den Holocaust überlebt?“ fragte ich meinen Sitznachbarn leise.
„Ja“, antwortete er ebenso, „man hat mich versteckt.“
Ich hätte gern mehr erfahren, aber in diesem Augenblick schaute der Sonnenhungrige zu uns herüber und rief:
„Was soll überhaupt die verrückte Vorschrift mit der Kopfbedeckung? So ein idiotischer Einfall!“
„Schimpfen Sie nicht schon wieder, hier ist eine Ruhestätte“, lieβ sich die dünne Stimme neben mir jetzt ganz ruhig vernehmen. „Wenn Sie in die Kirche gehen, nehmen Sie doch Ihre Kopfbedeckung ab. Bei uns ist es eben umgekehrt.“
Dem Mann in Hemdsärmeln auf der niedrigen Steinumrandung blieb der Mund offen stehen.
„Na so was“, sagte er verblüfft, scheinbar nach angestrengter Überlegung. „Aber warum umgekehrt?“
„Das hat seinen Grund, wenn Sie es wissen wollen.“ Ich spitzte die Ohren. Der Alte holte offensichtlich zu einer ausgiebigen Erklärung aus. „Als unsere Vorväter durch die Wüste zogen, weil sie aus Ägypten vertrieben wurden, war es dort in der Sonnenglut fürchterlich heiβ. Deshalb wurde verfügt, daβ die Männer ihre Köpfe bedecken muβten, um einem Sonnenstich oder Hitzschlag vorzubeugen. Unsere Frauen müssen ja ohnehin ihr Haar verhüllen. Und im Gedenken daran, aus Respekt vor unseren Vätern in der Wüste darf kein Mann unsere Friedhöfe oder Synagogen barhäuptig betreten.“


Quelle: REINEROVÁ, Lenka. Närrisches Prag. Berlin: Aufbau-Verlag, 2005. S. 56–60.

Další místa na téma "Wo deutsch schreibende SchriftstellerInnen unterwegs waren"