Der Stadtpark (Vrchlický-Park)

Hermann Grab

Der Stadtpark war von drei Alleen durchzogen, von der oberen, der unteren und der breiten mittleren. In die obere Allee – sie war neben dem Bahnhof gelegen – ging man nur, um Abwechslung zu suchen, und immer geschah es, daβ man sie bald verlieβ. Die obere Allee wurde von Menschen passiert, die den Stadtpark nur als Durchgangsort benutzten, und es war, als würde, mit den Paketen, die sie trugen, mit dem Strohgepäck der Frauen und den schwarzen Holzkoffern der Soldaten, der Geruch des Eisenbahncoupés, der Geruch von Ruβ und Orangenschalen bis an die freie Luft getragen. Hier saβ auf seiner Bank der Mann mit dem hölzernen Bein. Die Welt seiner Finsternisse, der Schreckensbilder von Spital und Nachtquartier, hatte ihn so sehr in ihren Bann gezogen, daβ man ihn immer wieder nur hierher kommen sah, nur zu dem muffigen oberen Weg, nicht in die lichteren Bezirke des unteren Weges und der Hauptallee.

Der untere Weg war immer menschenleer. Man suchte ihn sehr gerne auf, und am Anfang des Spazierganges bogen die Kinder ab, um die Fräulein unbemerkt dahin zu leiten. Der Weg war geschlängelt und mit der Ordnung der Gebüsche an der Seite – im Winter ein dicht verfilztes Ästewerk – gab er immer wieder einen überraschenden Aspekt. War es Renato gelungen, Marianne zum Lachen zu bringen – mit einer unglaubwürdig einfachen Bemerkung konnte das geschehen, wie etwa: „Schau dort in der Gasse der Mann mit seinem Bart!“ – dann konnte er hoffen, der ganze Spaziergang werde so verlaufen.

Der untere Weg wurde aber auch knapp vor dem Nachhausegehen aufgesucht. Man war daran, den Stadtpark zu verlassen, aber im letzten Augenblick schienen sich die Gouvernanten zu besinnen und sagten: „Wir gehen noch einmal den unteren Weg.“ Um diese Zeit war in der angrenzenden Mariengasse ein oder das andere Fenster schon erleuchtet und fuhr dort ein vereinzeltes Gefährt vorbei, so schien mit dem Aufschlagen der Hufe und dem Rattern des Wagens auf seiner Fahrt über das schlechte Pflaster die Stille um so deutlicher zu werden, aus der das Geräusch heraufkam und in der es sich wieder verlor. …

Übrigens wurde aber auch der untere Weg nicht allzu oft betreten. Die Fräulein favorisierten die Mittelallee. Breit und kerzengerade angelegt, gab sie einen weiten Blick, und die anderen Kinder und ihre Gouvernanten waren schon auf eine groβe Distanz hin zu erkennen. Manchmal kam man so zu einem Haufen zusammen, ein groβes Rudel von Kindern und ein groβes Rudel von Fräulein. Meist aber blieb man mit den anderen nur für eine kurze Weile stehen. Miβ Florence und Miβ Harrison kamen nicht in die Hauptallee, um sich allzu häufig in ihrer Unterhaltung stören zu lassen. Es steht allerdings nicht fest, ob es sich nicht ganz anders verhielt, ob sie nicht hierher kamen, gerade in der Hoffnung, mit den anderen gehen zu können. …

Der Stadtpark und andere Erzählungen von Hermann Grab

Der Roman erzählt die Geschichte von Renato, einem jungen Studenten, der sich zum ersten Mal in ein junges Mädchen Mariana verliebt, das er vor allem bei den Spaziergängen ihrer englischen Gouvernanten im Prager Stadtpark kennenlernt. Die Geschichten, die er auf seinen Spaziergängen, in der Schule oder zu Hause erlebt, werden vor dem Hintergrund der Atmosphäre des Ersten Weltkriegs erzählt. Hermann Grab schrieb das Buch im Alter von 28 Jahren im Jahr 1932, es wurde 1935 veröffentlicht und erschien erst 1995 in tschechischer Übersetzung.

— Der Stadtpark befand sich auf dem Gelände vor dem Hauptbahnhof in Richtung Nationalmuseum, ein Teil davon ist als Vrchlický-Park erhalten geblieben. Da mehrere deutsche SchriftstellerInnen den Stadtpark erwähnen, wurde er höchstwahrscheinlich von der deutschsprachigen Minderheit in Prag frequentiert.—

Kartenquelle: Höhenplan der Hauptstadt Prag und ihrer Umgebung 1920-1924

Zentrale Allee, 1925, Quelle: Archiv Hl. města Prahy (Archiv der Hauptstadt Prag)

Südwestlicher Teil des Vrchlický-Parks, 1926, Quelle: Archiv Hl. města Prahy (Archiv der Hauptstadt Prag)


Quelle: GRAB, Hermann. Der Stadtpark und andere Erzählungen. Verlag Neue Kritik, 1996. S. 22–24.

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